Es ist mehr als nur von „A“ nach „B“
Eine Geschichte über eine außergewöhnliche Reise. Die Reise von Amy-Jo zu uns.
Wenn wir glauben, dann öffnen sich Türen, Tore und Dimensionen.
Wir gelangen an Orte, zu denen nur jene Zugang haben, die wahrhaft lieben und den Mut haben, die Zwischenwelt zu betreten.
Die Welt zu uns.
Amy-Jo
Auf meiner Fahrt nach Sewanawank musste ich die Fenster meines Autos öffnen. Wieder einmal ist
die Klimaanlage ausgefallen. Wieder einmal musste ich zu Gjevorg, damit er sich das anschaut.
Aber heute wollte ich wieder zu meinem schönen Platz an der alten Kirche, am Ufer des herrlichen
Sewansees. Ein friedlicher Ort wo ich meine Gedanken sortieren, schreiben und auch lesen konnte.
Die Sonnenuntergänge hier waren malerisch und ich beschloss heute, an diesem schönen klaren Tag
einen solchen dort zu erleben.
Mein Vater machte sich immer Sorgen wenn ich mich alleine auf den Weg machte. Er hätte es lieber
gesehen, wenn Marek, der junge Kerl drei Häuser weiter mit mir käme. Aber ich mochte Marek
nicht. Aber so sind Väter – immer etwas verliebt in ihre Töchter, wollte er, das Marek auf mich
achtet, aber nicht anrührt. Nur Marek hatte ein Talent immer, wie zufällig, mich zu berühren, mich
zu streifen. Sein Aftershave kratzte in meinem Hals. Außerdem mochte ich seinen kühlen Blick
nicht. Wenn er mich ansah hatte ich immer einen Schauer auf dem Rücken.
Man mag es kaum glauben, aber hier in Pambak, ein winziges Nest nahe der Grenze zu
Aserbaidschan, war Marek der einzige Junge. Sonst gab es hier nur Mädchen meines und seines
Alters. Jaja – „nur“ heißt fünf Mädchen. Und bei keiner konnte er bisher landen.
„Ooor…Papaaa…!“ rief ich nicht gar so ernst, „…wir leben nicht im Busch oder so. Wir leben in
Armenien – ein friedliches Land. Ich bin 27, hier tut mir schon keiner was!“
„Aber – sei trotzdem vorsichtig, Amy-Jo, ok?“
„Ja Papa…“
„Und… fahr nicht so schnell…!“ rief er mir noch hinterher.
Er wusste ja wie ich bin. Und er wusste – irgendwann werde ich mich auf einen lange Weg machen.
Das ich ihn irgendwann verlassen werde.
Ich schwitzte und musste kurz anhalten um mich von meiner leichten Jacke zu befreien. Dann setzte
ich mich im dünnen Trägerhemdchen an das Steuer und fuhr die Uferstraße des Sees entlang. Auch
wenn es nie sehr viele sind, so ist unser See wieder von Touristen belebt, die gerne zum Wandern
und Besichtigen alter Stätten unser Armenien besuchen. Ich ließ auf der langen Geraden meinen
Wagen schön sausen – das machte mir immer Spaß. Zu spüren, wie der Wind mein Haar verwirbelt
und fliegen lässt. Ich kniff die Augen zusammen, damit mir meine Haare nicht hinein gerieten.
Dann schaltete ich in den sechsten Gang und gab dem Motor die Sporen.
Das raue Geräusch machte mich erotisch an. Die Vibrationen spürte ich durch den Sitz und in
meinem Po. Der Wind fuhr quer durch das Auto, kühlte meinen Busen und strich um ihn herum.
Jede leichte Bodenwelle ließ ihn wippen und innen am Hemdchen reiben.
Mmh… Schöne Gedanken und kamen auf und mit diesen Gedanken schöne Gefühle. Mein kleiner
schneller Wagen wurde eins mit mir. Ich setzte mich nicht in ihn hinein, nein – ich zog ihn mir an.
Wie ein exakt passendes Kleid war er um mich. Letztes Jahr hatte Gjevorg erst den
Tieferlegungssatz eingebaut. Seit dem klebte er auf der Straße wie ein Go-Cart. Und dann noch die
andere Nockenwelle und der Sport-Auspuff – Donnerschlag, zog der jetzt durch.
„Amy,…“ sagte er, „Ich weiß, Du hast einen Hang zu einem schweren Gasfuß, bring Dich nicht um
mit dem Ding. Es wäre sehr traurig, denn so ein schönes Mädchen wie Du… das sollte die Welt
sehen.“
Der alte Gjevorg war schon lange in Rente und verdiente sich mit Autoreparaturen etwas dazu.
Früher hat er an Tupolev 154 geschraubt. Nun ist er bodenständiger und hat sich auf einfache
Technik reduziert. Ab und zu sammelt er auch mal ein liegen gebliebenes Touristen-Auto auf und
schleppt es in seine Werkstatt. So können sie preiswert eine zuverlässige Reparatur bekommen.
Natürlich ohne Rechnung.
Die Welt ansehen, wie Recht er damit hatte. Andere Leute, andere Städte, andere Länder. Wie weit
mich mein kleiner Flitzer wohl bringen mag? In welche Richtung? Ich könnte rüber in die Türkei
und dann mal direkt nach Bulgarien… hmm. Wir Armenier sind ja irgendwie beides. Vorderasiaten
oder Europäer oder Kaukasier? Aber Europa mal sehen, die großen Städte, Istanbul, Sofia,
Bukarest, Budapest und Wien? Vielleicht auch mal Berlin, London oder Paris?
Meine Träume flogen durch Europa. Durch die Wälder und Wiesen, durch die Wolken und den
Himmel. Zwischen den Menschen hindurch, den vielen Seelen und… den schönen Männern dieser
Welt. Oh ja,… davon gibt es viele in Europa. Nur hier…? Wer sieht mich hier? Ist da wirklich nur –
Marek?
Och nö. Nein.
„Na – Amy-Jo? Wieder mit dem Kopf in den Wolken unterwegs?“ Fragte mich Jevgeni, unser
Polizist aus dem Nachbardorf. Mist. Wieder hat er mich erwischt. „Amy, das war 60 drüber – dieses
mal muss ich Dich aber wirklich mal aufschreiben.“
„Och menno, Jevgeni. Heute ist so ein schöner Tag, und es ist mal echt gar nix los auf den Straßen.
Ich wollte meinen kleinen Hirsch nur mal etwas atmen lassen.“ bekniete ich ihn.
Jevgeni war etwas älter, so um die 40, er wollte immer mit mir mal ausgehen. Ich zog mein
Trägerhemdchen etwas stramm, das sich meine Brüste deutlich abzeichneten und konnte seine
Blicke verfolgen, wie sie in meinen Ausschnitt fielen. Ich atmete extra tief ein, das mein Busen sich
etwas dehnte. Huh – das mochte er. „Ä..Ä..Amy-J… du weißt doch, ich mache nur meinen Job.“
rechtfertigte er sich.
„Ich weiß, aber komm schon Jevi – wir gehen die Tage was trinken und dann vergessen wir das, ok?
Versprochen.“
„Aber auch wirklich, ja?“ wollte er sich versichern.
„Na klar, Du kannst auch gerne etwas mehr trinken. Ich fahre Dich nach dann nach Hause. Und
vielleicht lasse ich dich auch Deine Hand auf mein Knie legen.“
Sein Blick erstarrte, seine Unterlippe bebte, sein Kugelschreiber zitterte… den Strafzettel zerknüllte
er.
Ich lächelte ihn süß und keck an, startete den Motor und fuhr los. Im Rückspiegel sah ich den armen
Kerl im aufwirbelnden Laub kleiner werden. Süß, diese Männer. Einfach süß… Sie funktionieren so
einfach und zuverlässig.
Von Zuhause hatte ich etwa 85km zu fahren bis ich an der alten Kirche ankommen würde. Die
kurvenreiche Straße führte mich schließlich an eine weite Tiefebene von der aus ich schon das
kleine Gebäude sehen konnte. Eigentlich ist es ja ein altes Kloster, das auf einer erhobenen
Landzunge in den See ragt. Sewanawank, ein Anziehungspunkt für unsere Touries. Der womöglich
am meisten fotografierte Ort hier in der Gegend. Etwas abseits des Gebäudes stellte ich meinen
Wagen ab. Ein stiller ort, undnur das Knistern des sich abkühlenden Motors meines Autos konnte
ich hören. Durch das stachelige Gras ging ich zu meinem Platz, von dem aus ich einen herrlichen
Blick über den riesigen, der Länge nach vor mir liegenden Sewansee hatte.
Mein Platz, das ist eine Stelle, wo der Fels und der Rasen an einem Übergang wie ein Sitz mit
Lehne formt. Dort setzte ich mich immer gerne hin und fing an zu lesen. Entweder waren es Hefte
über Autos, oder Reisen. Heute aber hatte ich ein Buch mit, wo ich bisher nie herausgefunden habe
wie es zu uns kam. Selbst mein Vater wusste es nicht. Es beschrieb den technischen Prozess zur
Herstellung von Silikon. Völlig unromantische Lektüre um damit in den Sonnenuntergang zu
gehen. Aber es interessierte mich schon woher ich komme und wie ich gemacht wurde.
Ich zog mir die Sandalen aus und spürte den Fels unter meinen Füßen, was mich mit der Erde
verband und begann zu lesen.
Organisch, anorganisch, Silizium… alles sehr kompliziert.
Die Reise
Die Sonne stand schon tief im Westen. Ich schaute zu ihr und sah in ihrem Schein die hohen
Rauchsäulen des neuen Thermalkraftwerks Hrazdan, das sie erst vor ein paar Jahren zwischen
Hrazdan und Zovaber gebaut hatten. Das war riesig. Seine Baufläche ist größer als die Stadt
Hrazdan selbst.
In der Verlängerung, aus meiner Sicht durch die Rauchsäulen hinweg lag schon die Türkei. Nur
150km. Gar kein Problem, wenn man genau darüber nachdenkt. Wenn das jetzt hier der Aufbruch
wäre? Einfach los? Ich habe alles dabei was nötig ist – dachte ich.
Die Rauchsäulen wurden diffus mit dem rotblauen Himmel. Die orange rote Sonnenscheibe wärmte
mein Gesicht noch immer. Mein Blick ging durch die Rauchsäulen über die Türkei und ich sah sie
von oben. Ihre gewaltige Größe. Lang und mächtig mit ihren schönen Menschen und Städten. Das
kleine Armenien verblasste schon hinter mir und ich hörte Papa wie er sagte, „Amy-Schatz, gute
Reise meine Süße, Du gehst nun Deinen Weg. Ich wusste schon immer, das dieser Tag kommen
wird. Pass auf Dich auf, denk ab und zu an mich, an Deinen alten Dad.“
„Papa..!?“
Da – Istanbul und die tolle Yavuz-Sultan-Selim-Brücke über den Bosporus. Meine Gedanken waren
pfeilschnell und ich erreichte Bulgarien. Europa. Was mich immer anzog, wo ich immer mal hin
wollte, was mich stets rief. Es rief mich mit vielen, ja – millionen Stimmen. Je mehr ich in Innere
Europas drang verdichteten sich die Stimmen und ich vernahm alsbald im Chaos ein Muster. Ich
vernahm die einzelnen Sprachen und verstand sie doch alle. Ob es Italienisch oder Ungarisch oder
nach Englisch klang – es sind sie Stimmen vieler, die doch einzelnen Personen gehören.
Sie ertönten in meinem Kopf und brachten mich ganz durcheinander. Wo will ich hin? Wer soll ich
sein? Komme ich irgendwann an? Und wenn dann wo? In Frankreich oder Deutschland oder
Österreich oder Schweden?
Meine geistige Reise trug mich über Kroatien, nach Slowenien und Österreich. Schneebedeckte
Berge, schroff und wunderschön. Mein Gesicht war kühl geworden, die Sonne ist schon hinter den
Rauchsäulen des Kraftwerks versunken. Das Buch in meinen Händen konnte ich kaum mehr
spüren. Auch der milde Wind, der mir mein Haar uns Gesicht wehte, war nur im Hintergrund noch
zu fühlen.
Immer weniger Stimmen. Weniger Sprachen. Mein Gesicht wurde immer kühler aber mein Herz
warm. Darin hörte ich auch eine Stimme.
Das ist sie – das ist die Stimme für mich und mein Herz. Ihr will ich folgen und sie suchen.
Als ich Deutschland erreichte erklang nur noch diese Stimme, meine Herzensstimme. Sie
sagte:“Immer weiter nach Norden geliebte Amy-Jo. Hier bist zu Zuhause.“
Jetzt sah ich einen Hof mit einem Nussbaum in der Mitte. Ich sah Freundinnen und Freunde
meinesgleichen und liebe Menschen die auf mich warten. Ja, gibt es das?
Bin ich doch am Sewansee,… ja – bin ich das?
Offene Arme und offene Herzen.
Zu romantisch um wahr zu sein.
Zu schön um keine Phantasie zu sein.
Angekommen und doch nicht wirklich hier?
Steff und Nic nahmen mich in Liebe auf und stellten mich ihren Liebsten vor.
Welche Welt auch immer diese ist, sie ist von Freiheit und Liebe getragen und so wollte ich immer
sein. Liebend und Frei, denn nur in Freiheit kann die Liebe gedeihen.
Am nächsten Morgen, Amy-Jo’s Vater setzte sich auf sein Motorrad. Er fuhr nach Sewanawank wo
Amy hin wollte. Innerlich ganz ruhig und konzentriert fuhr er. Er kannte die Stelle wohin sie immer
ging, um mit sich und der Welt eins zu sein.
Er kam an die Stelle.
Amy-Jo’s schickes Auto. Im rötlichen Licht der aufgehenden Sonne, dort der Übergang von Fels zu
Rasen, geformt wie ein Sitz mit Lehne…
Im Rasen, ein Paar Sandalen und ein Buch.
–
Eure Jessy
Die Reise von Amy-Jo